Stellen wir uns vor, wir entwickeln ein Produkt oder eine Dienstleistung und unsere Marktforschung hat ergeben, dass unsere Zielgruppe aus ca. 8 Millionen Menschen besteht.
Unbewusst und ohne ersichtlichen Grund schliessen wir nun 1,7 Millionen (mehr als 20 %) von der Nutzung des Produktes aus. Macht das Sinn? Nein.
Genau das passiert, wenn digitale Produkte entwickelt werden, ohne an die Barrierefreiheit zu denken. Ein grosser Teil unserer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen (in der Schweiz ca. 1,7 Mio.), werden von der Teilhabe an der Dienstleistung oder der Nutzung des Produktes teilweise oder ganz ausgeschlossen.
Die EU hat mit dem European Accessibility Act beschlossen, die Anforderungen an die Barrierefreiheit von digitalen Produkten und Dienstleistungen für die EU-Länder zu harmonisieren. Diese Richtlinie gilt spätestens für alle Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden. In der Schweiz gilt die Richtlinie nicht direkt, jedoch gibt es auch hierzulande Standards und Vorgaben (siehe weiter unten).
Neben den gesetzlichen Anforderungen haben wir auch eine gesellschaftliche Verantwortung, Barrieren zu verhindern und abzubauen. Deshalb beschäftigen wir uns mit dem Thema Barrierefreiheit.
In diesem Blog schauen wir uns genauer an, was Accessibilty bedeutet und welche Richtlinien es gibt. Im nächsten Teil geben wir 5 Tipps für mehr Barrierefreiheit an die Hand.
Auf die Frage «Barrierefreiheit – was ist das?» gibt die Stiftung Zugang für alle die folgende Antwort:
Barrierefreiheit schafft die Voraussetzung, damit Menschen mit Behinderungen das Internet selbständig nutzen können. Sie baut die Brücke für alle Menschen zu innovativen Zukunftstechnologien.
Die Art der Barrieren kann dabei vielfältig sein. So sind Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit auf gut programmierte Webseiten angewiesen, um sich mit Hilfe eines Screenreader-Programms zurechtzufinden. Und wenn ich Probleme habe, Texte zu verstehen, dann gibt es für mich zum Beispiel bei juristischen und formalen Texten Barrieren.
In der analogen Welt versuchen wir mit baulichen Massnahmen (Rollstuhlrampe, taktile Leitsysteme) und Hilfsmitteln (Blindenführhund, Brille, Rollstuhl) die Barrieren zu reduzieren oder bestenfalls ganz abzubauen. Diesen Anspruch gilt es auch in die digitale Welt zu übertragen. Dabei ist es wichtig, sich an Normen und Empfehlungen zu halten (stellen Sie sich vor, jeder Bahnhof in der Schweiz würde sein taktiles Leitsystem anders gestalten) und die Massnahmen frühzeitig zu planen.
Jedes Land hat seine eigenen Gesetze und Vorschriften. Im Folgenden sind die zwei wichtigsten Standards für die Schweiz beschrieben.
Die wichtigsten globalen Richtlinien für Internetdienste sind die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) des World Wide Web Consortium (W3C). Diese sind bereits sehr konkret und umsetzungsorientiert beschrieben.
Die WCAG definieren zudem für jede Richtlinie testbare Erfolgskriterien auf drei Ebenen:
Die Stiftung Zugang für alle empfiehlt das Erreichen der Stufe AA mit zusätzlichen Optimierungen im Bereich PDF und für bestimmte Zielgruppen. Darüber hinaus empfiehlt das W3C explizit, die Stufe AAA nicht als allgemeingültige Richtlinie vorzuschreiben «(...) da es nicht möglich ist, alle Erfolgskriterien der Stufe AAA für gewisse Inhalte zu erfüllen».
Neben den WCAG gibt es noch die ARIA-Richtlinien des W3C für Rich Internet Application. Allerdings unterstützen nicht alle Hilfsprogramme wie zum Beispiel Screenreader-Programme diesen Standard, was sowohl in Blogs (z.B. What are WCAG and WAI-ARIA?) als auch vom Referenten des Agile Testing Meetup im September 2022, Lenthe Basant, bestätigt wurde. Es wird daher empfohlen, den Einsatz von ARIA vorgängig zu prüfen und zu testen und die Vor- und Nachteile abzuwägen.
Die Anforderungen an Websites von Behörden und Verwaltungen sind in den eCH-0059 Accessibility Standards und im Leitfaden für barrierefreie digitale Kommunikation beschrieben. Insbesondere eCH-0059 orientiert sich dabei stark an den WCAG (Stufe AA). Diese Standards können wir auch in privaten Unternehmen anwenden und uns zu Herzen nehmen.
Einen guten Überblick über die rechtliche Situation in der Schweiz bietet auch die Stiftung Zugang für alle.
Beim oben erwähnten Agile Testing Meetup habe ich die Frage gestellt, ob es nicht eine Variante darstellt, eine zusätzliche, spezifisch für die Zugänglichkeit erstellte Version des Services oder des Produkts zu erstellen. Von diesem Vorschlag hat Lenthe Basant aus folgenden Gründen abgeraten:
Es gibt natürlich immer die Möglichkeit, Dienstleistungen speziell für Menschen mit Behinderungen zu gestalten, wie es auch Dienstleistungen speziell für junge oder ältere Personen gibt. In diesem Szenario würden sie unsere primäre Persona darstellen (vergleiche Tipp 2 im nächsten Teil). Inwieweit diese Services auch andere Nutzergruppen einschliessen soll, darf Gegenstand einer spannenden und lehrreichen Diskussion im Projektteam sein.
Im zweiten Teil gibt es 5 konkrete Tipps für mehr Barrierefreiheit.
Ich freue mich über jedes Feedback und jede Diskussion zum Thema und wünsche euch viel Spass und Erfolg auf eurer Entdeckungsreise Richtung Inklusion und Accessibility.
Euer
Beni
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