Erfahrungsbericht zum Design Thinking Workshop "Kommunikationsplattform für stark beeinträchtigte Personen"

29.6.2020

In einem Design Thinking Workshop der Infometis wurde der Bedarf von Personen mit starken körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen zur digitalen Kommunikation untersucht. Daraus wurden Proto Personas, Szenarien und ein Prototyp abgeleitet, die dann mit Fachpersonen diskutiert wurden.

Betreuten Personen mit besonderem Unterstützungsbedarf zu mehr Selbstbestimmung verhelfen

Es gibt erwachsene Menschen, die eine geistige und körperliche Beeinträchtigung haben, die ihr Leben massiv einschränkt: Sie leben in einem Heim und müssen intensiv betreut werden, weil ihre kognitive Entwicklung dem Stand eines 4- bis 6-jährigen Kindes entspricht. Jeder Besuch einer Veranstaltung oder ein Treffen mit einer Freundin in einer anderen Institution ist mit einem grossen logistischen Aufwand der Betreuer oder anderer Bezugspersonen verbunden. Da sich diese Personen mit kognitiven und motorischen Einschränkungen oft schlecht ausdrücken können und weder lesen noch schreiben können, ist die Kommunikation mit ihnen und untereinander schwierig.

Die Digitalisierung verspricht nun neue Möglichkeiten, das Leben dieser Menschen (Alter 18+) autonomer, vernetzter und schlussendlich selbstbestimmter zu machen. Doch was heisst das? Wie genau muss eine Lösung für diese Fragestellung gestaltet sein, um die erwünschte Wirkung zu erzielen? Welche Fähigkeiten haben diese Menschen, um IT-Geräte nutzbringend einzusetzen? Mit welchem Ziel soll ein Digitalisierungsprojekt in diesem Bereich gestartet werden?

Diese Fragestellungen sind Inhalt einer HCID-Masterarbeit, welche drei MAS-Studierende der technischen Fachhochschule Rapperswil (HSR) in den nächsten acht Monaten mit einem besonderen Fokus auf den Einbezug dieser Benutzer bearbeiten werden. Als soziales Engagement anerbot die Infometis den Studierenden und den drei involvierten Stiftungen rodania, arkadis und Discherheim das Projekt mit einem Design Thinking Workshop als Kick-Off zu starten. Patrick Steiger, Partner und Business Solutioneer der Infometis, moderierte diesen eintägigen Workshop in den Räumlichkeiten der arkadis in Olten.

Wie können wir Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf
in einem geschützten Raum unterstützen, sich zu vernetzen?

Mit dieser Design Challenge stiegen die drei Studierenden und ein weiterer Teilnehmer in den Workshop ein. Da alle vier keine Erfahrung mit mehrfach beeinträchtigten Menschen hatten, waren die ersten beiden Schritte des an diesem Tag zu durchlaufenden Design Thinking Mikrozyklus entscheidend:


Abbildung 1: Design Thinking Schritte des Mikrozyklus

Understand – das Problem zuerst richtig verstehen

Im Schritt Understand präsentierte einer der Teilnehmer, was im Vorgespräch mit der Auftraggeberin, der Stiftung rodania, schon besprochen worden war und was die Studierenden bereits recherchiert hatten. Gute Vorbereitung auf so einen Workshop nimmt zu Beginn schon mal viel Druck und Unsicherheit aus dem Spiel. Anschliessend trug das ganze Workshop Team das vorhandene Wissen zum Thema in strukturierter Form mit Kärtchen auf dem Boden zusammen. Das genügte, um zu erkennen, was man noch nicht (sicher) weiss und damit relevante Fragen für das bevorstehende Interview zusammenzustellen.

Observe mit Hilfe von Interviews

Observe: Für diesen Workshop waren drei Interviews geplant. Als Vorbereitung standen knapp 20 Minuten zur Verfügung, um aus den Annahmen und Lücken der Understand-Phase auf FlipCharts die Interview-Fragen zusammenzustellen und in eine sinnvollen Reihenfolge zu bringen. Bereits 90 Minuten nach Workshop-Beginn meldete sich dann der erste Betreuer via Skype-Session zum Interview. Eine Teilnehmerin war als Interviewerin bestimmt worden und befragte den Betreuer zu den Fähigkeiten der Zielgruppe, zu aktuellen technischen Hilfsmitteln, Problemen und Herausforderungen und vielem mehr.

Schematische Darstellung der Observe Phase


Abbildung 2
: Die Observe-Phase: Frageliste vorbereiten, drei Interviews durchführen und dazwischen Feedback an die interviewende Person geben und den Leitfaden verbessern.

Reflexion: ein wichtiges Instrument

Nach einer intensiven halben Stunde der Befragung gab es dann Raum für die Reflexion: Feedback an die Interviewerin aber auch Anpassungen am Interviewleitfaden. Das legte die Basis, um das zweite und später das dritte Interview durch andere Teilnehmer mit jedem Durchlauf verbessert durchzuführen.

Es war faszinierend zu erleben, wie empathisch und auf das Wohl der Betreuten ausgerichtet die Betreuenden wahrgenommen wurden. Offenbar ist die Erhöhung der Selbstbestimmung der begleiteten Menschen den Begleitern ein zentrales Anliegen. Nicht – wie man vermuten könnte – die Optimierung der Abläufe und die Vereinfachung der Logistik per se sind das Problem, sondern, wie die Personen mit starken Einschränkungen die Segnungen der digitalen Geräte alleine nutzen können? Die Frage ist also, wie sie autonomer werden und z.B. selbst entscheiden können, an welchen Veranstaltungen sie teilnehmen wollen und mit wem sie wann virtuell in Kontakt treten. Wichtig ist auch, dass sie diese Beziehung dann ebenfalls mit der für uns selbstverständlichen Privatsphäre pflegen können.

Point of View

Aus dem vielen Material entwickelten zwei Zweierteams je eine Proto-Persona. Das half enorm, um die Empathie für die Benutzer zu entwickeln und sich klar zu werden, dass diese Menschen Charakterzüge, Bedürfnisse und Ziele haben, die sich nicht unbedingt von anderen Gleichaltrigen unterscheiden. Zum Schluss dieser Phase galt es, sich auf eine konkrete Fragestellung zu einigen. Aus zwei Varianten – je eine pro Proto-Persona – priorisierten die Teilnehmer das folgende Problemstatement:

Flip Chart der Proto Persona "Dario"

 

Protopersona wird im Zweierteam erarbeitet

 

Point of View - Problemstatement


Abbildung 3
: Resultate des Schritts Point of View

Die Problemformulierung sieht auf den ersten Blick trivial aus. Wenn wir uns aber vor Augen halten, dass es sich um Menschen handelt, die sich nur schwer ausdrücken können, z.T. mit Gebärden oder mit einer selbst entwickelten Lautsprache und die bisher zu 100% auf die Unterstützung der Betreuer oder anderer Bezugspersonen angewiesen waren, wenn sie soziale Kontakte pflegen wollten, dann wird klar, dass es sich um eine sehr relevante Fragestellung handelt. Das haben dann auch die Auftraggeberin und eine der interviewten Betreuerinnen, die am Abend zur Feedback-Runde in die Workshop Räumlichkeiten kamen, bestätigt.

Ideen finden und Prototypes bauen

Die Erfahrung des Moderators wurde einmal mehr bestätigt, nämlich dass die Suche nach dem richtigen, relevanten Problem zwei Drittel der Workshop Zeit beansprucht. Wenn es kreativ werden soll, gibt es – wie bei allen Schritten in einem Workshop – die Wahl zwischen einsamen und gemeinsamen Kreativitätstechniken. So sieht Kreativität mit einer ‚einsamen‚ Brain-Writing Methode aus:

Einzelarbeit zur Kreativitätstechnik 6-3-5


Abbildung 4
: Ideate mit der 6-3-5 Methode

Die generierten Ideen wurden gebündelt, diskutiert und priorisiert und anschliessend in zwei Iterationen zu einem Szenario und mehreren Papier-Prototypen ausgearbeitet:

Szenario für Proto Persona "Dario"

 

Zweite Iteration - Diskussion zum Prototyp


Abbildung 5
: Diskussion über das Szenario und die zweite Iteration des GUI-Prototpyen.

Testen, testen, testen

Zum Ende des Design Thinking Workshops kamen die Auftraggeberin und eine der interviewten Betreuerinnen zur Feedbackrunde dazu. Das Team stellte engagiert alle Arbeitsresultate vor und war dann gespannt, wie das bei den indirekt Betroffenen ankam.

Überrascht von der Menge und Qualität der Flip Charts und Prototypen bescheinigten die beiden Fachleute den Workshop Teilnehmenden eine sehr grosse Empathie: Die Proto-Personas repräsentierten die anvisierten Benutzer sehr treffend.

Konstruktives Feedback gab es zu den GUI-Entwürfen:

  • So sei beispielsweise für viele Personen mit kognitiven und motorischen Einschränkungen das Scrollen auf einem Tablet kaum möglich.
  • Auch sei Textlesen und -verstehen schwierig → Piktogramme, Bilder und Ton seien besser geeignet.
Test: Feedbackrunde am Schluss mit den Stakeholdern


Abbildung 6
: Feedbackrunde mit zwei Stakeholdern

Fazit zu diesem intensiven Workshop Tag

Wir starteten ergebnisoffen und endeten mit einem konkreten Resultat, das die Stakeholder sehr erfreute und auch bei den Teilnehmenden tiefe Befriedigung auslöste. Das Projektteam lernte enorm viel über die zukünftigen Benutzer und die Problematik, die sich für ihre weitere Arbeit stellt.

Nicht die Funktionalität ist kritisch (Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf haben in sozialer Hinsicht ähnliche oder gleiche Bedürfnisse, wie alle anderen Menschen) sondern die Gestaltung des User Interface und der Interaktion wird die grösste Herausforderung sein. So wurde beispielsweise anhand der im Workshop erarbeiteten Protoypen klar, dass User Tests mit solchen low-fi-Wireframes und Skizzen nicht funktionieren würden. Stattdessen müssen Benutzer-spezifische hi-fi-Prototypen geschaffen werden, um damit dann in mehreren Iterationen die richtige Interaktionssprache entwickeln zu können.

Alle Teilnehmenden und der Moderator freuen sich, mit diesem Design Thinking Workshop einigen sehr relevanten Problemen auf die Spur gekommen zu sein und für das wichtigste Szenario (Freunde zum Besuch einer Veranstaltung zu motivieren) eine erste, konkrete Lösung erarbeitet zu haben. Das führte allen klar vor Augen, wo der Schlüssel zum Design liegt.

29.06.2020 / Patrick Steiger

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