Retrospektiven in Zeiten des Home Office

6.5.2020

In den Zeiten von Corona hat sich unser gesellschaftliches Leben grundlegend verändert. Aber auch unsere Art zu arbeiten, denn was vorher oft nur in Ausnahmefällen möglich war, ist heute die Regel. Und nach den ersten Wochen der persönlichen und technischen Anpassung, haben viele sich an die „neue Normalität“ im Home Office gewöhnt.

Doch sollte man sich jetzt nicht auf den Lorbeeren des Erreichten ausruhen. Kaizen, die kontinuierliche Verbesserung, ist die Kernkomponente einer agilen Organisation und gilt es weiter umzusetzen. Gerade in diesem veränderten Arbeiten liegt viel Potential. Aber wie macht man das als Team in Zeiten des Home Office?

Remote Retrospektiven

Das klingt erst etwas wunderlich, funktioniert in der Praxis aber überraschend gut. In den letzten 4 Jahren durfte die Infometis viele Teams bei Retrospektiven begleiten und auch für mich waren die letzten Wochen sehr lehrreich und spannend. Nach ausführlicher Toolevaluation und einigen Versuchen und Experimenten, haben wir erfolgreiche Remote Retros durchgeführt und konnten für die Teams nachhaltige Verbesserungen erarbeiten und umsetzen. Gerne möchten wir hier die wichtigsten Erkenntnisse und einige Tools teilen.

Vorbereitung ist die halbe Retro

Als Moderator einer Remote Retro gibt es einige Punkte, die wesentliche Unterschiede zur klassischen Retro darstellen. Eine gründliche Vorbereitung ist wichtiger denn je. Der Ablauf der Retro sollte gut überlegt und in Gedanken mehrmals durchgespielt werden. Nicht nur für unerfahrene Moderatoren ist ein Drehbuch mit Notizen von Vorteil, um während der Durchführung nicht den Faden zu verlieren.

Im Vorfeld sollte man sich mit dem Kommunikationstool gut vertraut machen. Egal ob Zoom, Webex, Skype, Teams, etc., wichtig ist das Tool gut zu kennen und sich bereits vorher mit den wichtigsten Funktionen auseinander zu setzten:

  • Wie teile ich Inhalte meines Bildschirm?
  • Wie kann ich Subräume bilden für Gruppenarbeiten?
  • In welcher Form Feedback geben oder den Chat bedienen?

All das sollte klar sein.

Was haben wir nach den ersten Monaten mit Remote Retros gelernt? Gerne wollen wir hier unsere Erfahrungen teilen und Ihnen einige nützliche Tipps und Tricks mitgeben.

Set The Stage

  • Die Aktivierung der Teilnehmer ist gerade bei Remote Retros ein wichtiger Erfolgsfaktor. Hier eignen sich konkrete, nicht zu offene Fragen wie: «Wie geht es mir im Home Office auf einer Skala von 1 – 10? Bitte einen kurzen Satz warum». Jeder Teilnehmer soll einmal vor dem Team gesprochen haben. Dies hilft Barrieren abzubauen und führt zu aktiveren Diskussionen.
  • Eine kurze Agenda und das Wiederholen der Retro Regeln, sollte nicht vergessen werden. Nur im geschützten Raum, mit ehrlicher und offener Kommunikation, kann das Team echte Verbesserung erzielen. (Las Vegas Regel, Prime Directive von Norman Kerth)

Gather Data

  • Wann immer möglich sollten zu Beginn der Retro die beschlossenen Massnahmen der letzten wiederholt werden. Konnten wir alle Beschlüsse aus der letzten Retro umsetzen? Haben die Massnahmen zu einer Verbesserung geführt? Wollen wir das eine oder andere Experiment weiterführen, oder doch abbrechen? Wer nicht regelmässig das Beschlossene auf seine Wirkung kontrolliert, läuft schnell Gefahr Massnahmen zu beschliessen, aber diese nicht (oder nur teilweise) umzusetzen.

Generate Insights

  • Klare Ansagen! Die Aufträge, die an die Teilnehmer gegeben werden müssen klar sein. Empfehlenswert ist sich darüber bereits in der Vorbereitung Gedanken zu machen und dies im Drehbuch zu dokumentieren. In einer klassischen Retrospektive „spürt“ der Moderator die Stimmung des Teams und wenn eine Anweisung nicht klar übermittelt wurde, merkt er dies schnell. Dies ist bei einer Remote Retro viel schwieriger. Darum: klare Ansagen!
    Beispielsweise könnte in der Phase «gather data» mit der Methode «glad, sad, mad» eine klare Ansage an das Team so lauten: „Bitte nützt die nächsten 7 Minuten (Timer stellen), und denkt nach was die 4 wichtigsten Ereignisse der letzten Iteration waren, die euch entweder richtig geärgert haben, oder die euch traurig machten. Oder aber, was  ihr richtig gut fandet. Bitte gebt zu jedem Bereich mindestens einen Input, und ein Bereich kann 2 Inputs haben.“
    Das Team weiss nun wieviel Zeit es hat, wieviel Input es geben soll und zu welchen Bereichen. Allgemeine Aufträge wie „Schreibt auf was euch dazu einfällt“ sollten vermieden werden.

Decide What To Do

  • Clustern – das Team oder der Moderator? Nachdem alle Inputs durch das Team gegeben wurden, werden die Themen gruppiert. Aber durch wen? Da die Retro vom Team für das Team ist, sollte das Clustern wann immer möglich durch das Team erfolgen. So ist beispielsweise das «silent clustering» eine sehr effiziente Variante die bei klassischen Retros gut funktioniert. Und das Grundprinzip kann auch im Remote angewendet werden.

Closing

  • Feedback holen. Leider konnten wir bisher kein Online Tool mit integriertem Abschluss finden. Dabei ist es für den Moderator enorm wichtig zu wissen, ob die Retro vom Team als Mehrwert empfunden wird und wie zufrieden die Gruppe generell mit der Retro war. Ansonsten kann der Moderator nicht das machen, was er predigt: … stetig an sich arbeiten, um besser zu werden. Daher ist der Einsatz von Feedback-Tools wie Mentimeter oder Aha-Slides sehr zu empfehlen, auch wenn dies einen Medienbruch darstellt. Wieder ist eine gute Vorbereitung für einen reibungslosen Einsatz essenziell.

Welche Tools können unterstützen?

Neben bewährten und bekannten Tools wie Trello oder Miro, gibt es auch andere, die sich auf Online Retrospektiven spezialisiert haben. Wir haben uns einige davon angesehen und ausprobiert. Dabei verfügen alle Tools über die Grundfunktionen wie Timer, Gruppierung von Themen (Clustern) oder Voting. Die folgenden wollen wir hier kurz vorstellen:

Retrotool

Sehr schlank und einfach aufgebaut. Es können keine Organisationen oder Teams konfiguriert werden. Eine Retrospektive wird vom Moderator gestartet und der Link den Teilnehmern zugeschickt.

Während der Erfassung der Inputs können die Inhalte auf virtuelle PostIts erfasst werden, die sich in einer privaten Sektion befinden. Diese können anschliessend strukturiert und in einer Gruppendiskussion publiziert werden. Dadurch erfolgt das Clustern während die Teilnehmer ihre Inputs der Gruppe erklären und auf den öffentlichen Bereich des virtuellen Boards schieben. Leider können die Gruppierungen nicht mit einer Überschrift versehen werden.

Ein einfaches, effizientes und kostenloses Tool. Sehr gut geeignet zum Starten.

Parabol  

Ein umfangreiches und gut strukturiertes Tool, in dem Organisationen und Teams erfasst werden können. Gut gelöst sind die Taskboards. Diese können individuell und pro Team bearbeitet werden und sind sehr übersichtlich aufgebaut. Dort hat man stets einen Überblick wie die Umsetzung der beschlossenen Massnahmen steht, oder ob diese blockiert sind.

Pro Retrospektive kann eine Agenda vorbereitet werden. So können Inhalte, Themen und Regeln beim Start der Retro besprochen werden. Sehr gelungen ist das Retroprotokoll, welches nach Abschluss der Retro automatisch an alle Teilnehmer per E-Mail verschickt wird.

Ein komplettes und gutes Tool, das für bis zu 2 Teams kostenlos verwendet werden kann.

Retrium

Ein noch umfangreicheres Tool, bei dem die Teams erfasst werden können und der „Action Plan“ zur Verwaltung der Massnahmen pro Team ersichtlich ist. Ausserdem besteht die Möglichkeit per „Team Radar“ einen Spider zu erarbeiten. Sehr schön gelöst ist die Auswertung und die Analyse der Ergebnisse des Team Radars, wobei das Tool hier gute Fragestellungen und statistische Auswertungen anbietet.

Einzigartig im Vergleich zu den anderen Applikationen ist der Klingelton, der bei Ablauf eines Timers bei allen Teilnehmern ertönt und vom Moderator auch manuell ausgelöst werden kann. Nach Abschluss wird auch hier das Retro Protokoll automatisch erstellt und im Bereich „Historie“ abgelegt. Leider kann während einer Retro nicht in die Vorphase zurück gelangt werden und auch in der Phase «Discuss» fehlt eine Möglichkeit, die Diskussion -welche zu den Massnahmen führte – zu dokumentieren.

Ein übersichtliches und gutes Tool, dass 29 USD pro Team und Monat kostet. Zum Ausprobieren gibt es eine 30 tägige kostenfreie Trial-Version.

Teamretro

Nicht nur graphisch ansprechend, sondern auch sehr komplett ist Teamretro. Auch hier steht ein „Action Plan“ der Massnahmen des Teams zur Verfügung. Die Ergebnisse werden historisch dargestellt. Dies erlaubt eine Visualisierung der Entwicklung über einen Zeitraum.

Sehr gut gelöst ist die Individualisierung der Retrospektiven. So hat man sehr viele Einstellungsmöglichkeiten, wie z.B. ob das Voting oder die gesammelten Ideen anonym oder personalisiert durchgeführt werden sollen. Einzigartig ist auch die vom System vorgeschlagenen Gruppierungen. Teamretro clustert die Inputs automatisch und schlägt diese dem Team vor.

Das umfangreichste der untersuchten Tools kostet für ein Team 25 USD pro Monat (Rabatte bei mehreren Teams), und bietet auch eine 30-tägige Trial-Version an.

Fazit

Gerade in den aktuellen Zeiten der Anpassungen an neue Rahmenbedingungen, ist der Grundgedanke der kontinuierlichen Verbesserung essentiell. Durch den Einsatz einer Videokonferenz in Kombination mit einem Retro Online Tool, etwas Vorbereitung, Disziplin und Offenheit für Neues kann (und soll) Kaizen auch in diesen Zeiten weitergelebt werden. Retrospektiven sind und bleiben der Motor für eine konsequente, kontinuierliche Verbesserung einer Organisation, mit oder ohne Corona.

Wenn Sie Unterstützung bei der Evaluation von Tools benötigen, oder einen Moderator für eine Remote Retro suchen, können sie sich gerne bei uns melden. Zudem haben wir unser Trainingsangebot, um die Remote Retros ergänzt. Erfahren Sie mehr über unser Retrospektiven Angebot und buchen Sie einen unverbindlichen Erfahrungsaustausch mit mir.

Wir freuen uns!

Ihr Mesrop Yaghubian

Unser Retrospektiven Angebot

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